Die fundamentalen Rechte von Schaufenstern
Am 13. Juli 2012 bestätigte das Kassationsgericht, das höchste Gericht Italiens, die Verurteilung von zehn italienischen Demonstrant*innen. Allen wurden für „Verwüstung und Plünderung“ während der G8 Proteste in Genua 2001 Gefängnisstrafen auferlegt. Im Einzelnen wurden sie für das Zerschlagen von Schaufenstern, für Barrikadenbau und die angebliche Plünderung von Supermärkten schuldig gesprochen. Das für die Verurteilung relevante Gesetz, enthalten im Codice Rocco, geht auf das Jahr 1930 zurück: als Teil des Strafgesetzbuches von Mussolinis faschistischem Regime wurde es nie reformiert. Es wurde ursprünglich erstellt, um auf reale Situationen der Verwüstung und Plünderung während Kriegszeiten zu reagieren. In der Gegenwart wird es uminterpretiert um es für Demonstrationen anzuwenden, die Kritik an gesellschaftlichen Gegebenheiten üben. Eine Besonderheit des Gesetzes ist, das Menschen allein anhand einer „psychischen Co-Partizipation“ verurteilt werden können, ohne dass der Staat gezwungen ist, eine explizite Verbindung zwischen den Beschuldigten zu beweisen. Demzufolge kann ein Mensch bis zu 6 Jahren Gefängnis bekommen, allein für den Fakt, dass er oder sie neben einem Menschen stand, der ein Schaufenster zerbrochen hat. Bis zu 10 Jahren Gefängnis gibt es für die Beihilfe zum Zerschlagen.
Das Urteil
Francesco Puglisi und Vincenzo Vecchi sind zwei der „Genua 10“, die die härtesten Strafen für das Vergehen der „Verwüstung und Plünderung“ erhalten haben: 15 und 13 Jahre. Sie sind zur Zeit nicht auffindbar.
Zwei weitere Menschen, Alberto Funaro und Marina Cugnaschi (verurteilt zu 10 Jahren und zu 12 Jahren und 3 Monaten) wurden sofort verhaftet und eingesperrt. Ines Morasca, verurteilt zu 6 Jahren und 6 Monaten, konnte ihre Haftstrafe, bedingt durch elterliche Pflichten, aussetzten, da sie ein sehr junges Kind hat. Den verbliebenen 5 wurde das Recht zugesprochen, Berufung gegen einige der Anschuldigungen einzulegen. Sie wurden der „Verwüstung und Plünderung“ schuldig gesprochen, aber können Beweise vorlegen, um ihre Strafen zu reduzieren. Dazu müssen sie beweisen, dass sie zum G8 in Genua von der „Mob-Mentalität“ um sie beeinflusst wurden.
Eine Kampagne namens 10×100 (10 Menschen, 100 Jahre Gefängnis) wurde ins Leben gerufen um die Verurteilten zu unterstützen. Die Kampagne verfolgt das Ziel, Geld für Gerichtskosten zu sammeln, um die zu unterstützen, die bereits im Gefängnis sitzen sowie deren Familien, um allen Betroffenen Solidarität entgegenzubringen.
Die fundamentalen Rechte von Schaufenstern
Genua ist nicht vorbei, weder gestern, noch heute oder morgen.
Verbissenheit kann etwas sein, das kein Ende kennt. Im Falle Genua wütet sie bereits für 11 Jahre. 11 Jahre um zu dem vermeintlichen großen Finale zu kommen, in dem das Kassationsgericht Italiens die Verurteilung von zehn Demonstrant*innen bestätigt. Ein Entscheidung, ausgeteilt in sehr auffälligen Zeiten – Zeiten in denen das neoliberale Modell in seine bis jetzt längste ökonomische Krise der letzten 40 Jahre kollabiert ist. Zeiten, in denen in ganz Europa die vorausgehend eroberten Rechte beseitigt werden. Zeiten, in denen Orte für die Artikulation normabweichender Meinungen und für die Möglichkeit zur kritischen Auseinandersetzung mehr und mehr schwinden.
Das kriminelle Vergehen der „Verwüstung und Plünderung“ ist ein Erbe des faschistischen Strafgesetzbuches, noch immer in Kraft in Italien. Ein legales Monstrum, das willkürlich und im ‘politischen’ Verständnis benutzt wurde, um eine abschreckende Bestrafung zu verhängen, um ein Exempel zu statuieren. Und irgendjemand musste natürlich die Schwierigkeiten der Rechtfertigung solcher Strafen auf sich nehmen: aus was genau besteht das „Verwüsten und Plündern“ und warum wurde es speziell von diesen 10 Demonstrant*innen begangen, wo es doch hunderte und tausende in Genua waren? In seinem Schlussplädoyer an das Kassationsgericht, war sich der Hauptstaatsanwalt für nichts zu schade. Er argumentierte, dass obwohl das Gesetz faschistische Wurzeln besitzt, Delikte dieser Art aus der Perspektive der Italienischen Republik neu interpretiert werden können, und zwar in Bezug zu der Notwendigkeit, die Meinungsfreiheit und die Demonstrationsfreiheit für alle zu schützen. Wir erinnern uns alle sehr genau wie der Staat und dessen Polizei die Demonstrationsfreiheit während des G8 Gipfels 2001 zu schützten wussten, als wir die Erfahrung der gravierendsten Aufhebung der demokratischen Rechte in einem westlichen Land seit dem 2.Weltkrieg machen mussten.
Wir erinnern die Verwüstung von Körper und Geist, verursacht durch die Militarisierung einer ganzen Stadt, durch die gefälschten Nachrichten und dem Abschließen von Grenzen, durch die brutalen Angriffe, die Schüsse, das CS-Gas, die willkürlichen Festnahmen, die Folterungen, die Schläge, die Fälschung von Beweisen und die Vertuschung.
Wir erinnern wie das Lebens eines jungen Mannes geraubt wurde und die Verwüstung seines Körpers als er bereits tot am Boden lag. Auf all dem hat die italienische Bürokratie 11 Jahre später ihre Wahrheit errichtet: die Repression von Demonstrant*innen in Genua war brutal und wahllos, aber niemand kann politisch dafür verantwortlich gemacht werden. Der Preis wurde nur von Teilen der Truppen und den Befehlshabern gezahlt. Der Polizeichef der damaligen Zeit wurde von der gegenwärtigen Regierung zum Staatssekretär ernannt und verteidigt öffentlich seine damals diensthabenden Mannschaft. Die Demonstrant*innen dagegen gehen ins Gefängnis.
Wir haben keine guten Nachrichten vom Gericht erwartet. Dennoch wollten wir weiterhin daran glauben, dass die Realität Überraschungen offen hält. Aber die derzeitige Realität ist die, dass wenigstens vier der zehn Demonstrant*innen Opfer eines sofortigen Freiheitsentzuges sind. Ihre Situation ist ein Signal für uns alle: von jetzt an reicht es aus, jemandem beim Zerbrechen von Schaufenstern zuzusehen um sechs Jahre Gefängnis zu bekommen. Und wenn du dabei hilfst es zu zerbrechen, verdienst du mindestens zehn Jahre. Diesem Gesetz nach haben Schaufenster definitiv ihren Kampf gegen Menschen gewonnen. Und die Nachricht könnte nicht klarer sein: wage es nicht die Straßen einzunehmen. Alle sollen zuhause bleiben, die Last der Krise tragend ohne sich zu rühren.
Die Kampagne 10×100 entstand um die Zukunft von 10 Menschen herum, aber erreichte auch darüber hinaus politische Erfolge. Nicht nur, dass viele Menschen die Petition unterzeichnet haben, sondern vor allem, dass eine breite Öffentlichkeit informierte wurde, die bis dato nichts von der Existenz des Delikts der „Verwüstung und Plünderung“ wusste, noch von der Art und Weise wie Genua 2001 beendet wurde. Es gelang der Kampagne eine Debatte in den Massenmedien auszulösen. Aber die Kampagne ist noch nicht vorbei. Eigentlich beginnt sie gerade. Nicht nur, weil wir weiterhin den Freiheitsdiskurs füttern wollen, sondern weil die, die jetzt im Gefängnis sitzen unsere Solidarität brauchen. Gegenwärtig ist es von unvergleichbarer Bedeutung, sie nicht allein zu lassen. Genua ist noch nicht zu Ende. Der letzte Vorhang ist noch nicht gefallen.
Die Gefangenen freuen sich über eure Briefe und Unterstützung: Adressen:
Marina Cugnaschi c/o Seconda Casa Di Reclusione Di Milano – Bollate - Via Cristina Belgioioso 120 - 20157 Milano (MI)
Per Fagiolino
Alberto Funaro c/o Casa di reclusione di Rebibbia – Via Bartolo Longo 72 - 00156 roma
Per scrivere a Gimmy:
Francesco Puglisi - Casa Circondariale di Roma Rebibbia - G9 – cella 12 – piano 2 – sezione A - Nuovo Complesso in Via Raffaele Majetti, 70 - 00156 Roma
Finanzielle Unterstützung: http://www.buonacausa.org/page/donate/380